Gute Dinge sind wie zarte Pflanzen auf einer viel befahrenen Straße. Jedes Mal, wenn eine neue Wurzel ihre Sprossen durch den Asphalt treibt, klebt irgendwo anders ein grüner Stängel im Reifenprofil eines VW Tiguans – übrigens ein Kreuzprodukt aus Tiger, Leguan und dem Wunsch in der Großstadt trotz Automatikgetriebe auf einen Murgang vorbereitet zu sein. Alles hat wohl seine Zeit und nichts bleibt ewig – auch wenn dies zugleich bedeutet lieb gewonnene Dinge irgendwann loslassen zu müssen – und sei es nur der Prime-Versand innerhalb von 24 Stunden, den Amazon durch die vollgestopften Straßen leider nicht mehr garantieren kann.

Noch trägt mich das Restprofil meiner alten Timberlandschuhe, während ich, in Gedanken versunken, auf dem Gehweg voranschreite. Gerade fährt eine hupende Kolonne, bestehend aus Webinaren, Bootcamps und Rabattaktionen an mir vorbei. Eines der Social-Media-Fahrzeuge hat bei einem Überholmanöver fast einen Fahrradfahrer vom Sattel geholt. Wütend brüllt der junge Hipster auf seinem schimmerndem Singlespeed dem Autofahrer hinterher – vergeblich wie sich zeigt. Immerhin ist ihm und seiner Leica M6, die von seiner Schulter baumelt, nichts passiert.

Wenige Meter Luftlinie vor mir, direkt bei der Ampelanlage, wartet eine Gruppe Gewinnspiele auf unbedarfte Passanten, denen im Vorbeilaufen Newsletter in die Hand gedrückt werden, die sich aber keiner wirklich durchliest und welche kurze Zeit später im zugemüllten Spamordner am Straßenrand landen. Zeit eine Ausweichroute zu finden. Schräg gegenüber besprüht zu meinem Unglück gerade eine Millenial-Gang eine Hauswand mit “@J und @H müssen dir heute ein Bier ausgeben“, sodass ich mich kurzerhand für den Schleichweg durch die Spielstraße entscheide. Als ich das letzte Mal durch die Allee hier schlenderte, gab es noch Filme ohne Produktplatzierungen – wie schnell die Zeit vergeht. Eigentlich könnte ich kurz beim Bäcker halten, um so meinen Blutzuckerspiegel wieder etwas anzuheben. Auf dem Klappschild vor der Eingangstür wird jedoch die neue App der Bäckerei beworben, anstatt einem Franzbrötchen, sodass ich lieber hungrig weiterziehe. Kundenakquise 2.0. ist einfach nichts für mich und meinen empfindlichen Magen.

Nun bin ich fast in der Innenstadt angelangt. Ein Reisebüro bewirbt im Schaufenster seit dieser Woche einen All-inclusive-Trip nach Bali. Der Travel-Larry in mir hadert schon seit einer Weile mit dem Gedanken nach Indonesien zu fliegen. Die Vorstellung nun in der Hochsaison auf 18-jährige, in Spray-Tan getunkte Amerikanerinnen mit gebleechten Zähnen und Brustimplantaten zu treffen, deren jedes zweite Wort “like” oder “literally” ist, behagt mir aber genauso wenig wie deren Anhang, der in der Regel aus betrunkenen Australiern und deutschen Selbstfindungshippies  besteht. Bis zur Nebensaison muss ich mich wohl etwas gedulden und so schiebe ich meine Reisepläne betrübt ins nächste Jahr, während ich endlich die Zone A des Hamburger Verkehrsverbundes betrete.

Auf dem Kleiderständer der neu eröffneten Kik-Filiale hängen bedruckte T-Shirts, die für die Hälfte der UVP angeboten werden. Da ich heute noch kein OOTD gepostet habe, könnte ich eigentlich sofort zugreifen. Doch will ich wirklich mit Catchphrases a la “Nicht glauben, ausprobieren!” oder “Wer will, der kann” durch die Gegend laufen? Ich will nicht. Stattdessen halte ich mich lieber an den Songtext “Wachsen” von Lina Maly und gehe weiter ohne roten Faden spazieren. Vorbei an Life- und Business-Coaches, barfüßigen Studenten, juulenden Teenies und dem Gefühl, dass es immer aufwärtsgehen muss. Wenn ich Glück habe, sehe ich später noch die Milchstraße über der Stadt.