Am Seitenstreifen
Es ist endlich wieder Frühling, auch wenn die kalten Temperaturen und der viele Schnee auf den Straßen Hamburgs eine andere Sprache sprechen. Doch das Wetter ist bei weitem nicht der einzige Widerspruch, der einem in diesen Tagen begegnet.
Zeit Online beispielsweise rät Künstlern sich zu kapitalisieren und verwendet selbst in jenem Artikel Bilder von Unsplash, bei denen der Fotograf oder die Fotografin keinen Cent verdient.
Und einige der großen Landschaftsfotografen auf Instagram füllen ihre Captions plötzlich mit kritischen Tönen über die Austauschbarkeit der Szene, die immer nur die gleichen Orte zeigt und durch ihre Reiselust vielen besonderen Orten den Glanz nimmt – und während sie das tun, sieht man über ihren Zeilen das 100. Bild vom Pragser Wildsee oder die immer gleichen Spots auf den Faröinseln. Gleichzeitig wirbt eine große Fashionbloggerin, komplett in Leder gehüllt, für vegane Produkte.
„Hypocrisy, thy name is you“ um endlich einmal Dr. Cox aus Scrubs zitieren zu dürfen.
Auch der Preset-Markt scheint langsam gesättigt zu sein, weshalb nun alle auf den Coaching-Zug aufspringen, der mit hoher Geschwindigkeit Richtung mehr Kunden, mehr Interaktion und mehr Profit davon rauscht – ob einen das teure Ticket wirklich zum Ziel bringt, darf wie immer bezweifelt werden. Solange frage ich mich bei jeder weiteren Anzeige „Was ist das (schon wieder) für 1 Life(-Coach)?“
Nachdem vor einiger Zeit die Suggested-Liste auf Instagram eingestellt wurde, entschied man sich nun auch die lokalen Community-Projekte (wie beispielsweise @instagramde) einzustampfen (Link). Damit fällt wohl die letzte firmeneigene Widerstandsbewegung gegen den reinen Kommerz und die große Dauerwerbesendung kann endlich ungehindert wie eine Lawine über uns hereinbrechen. Zugleich keimt bei vielen der Wunsch nach etwas Neuem auf – vorausgesetzt man ist nicht 13 Jahre alt und verbringt seine Abende mit der App musical.ly.
Der Reiseführer unserer Social-Media-Reise-Gruppe bittet uns gerade wieder alle in den Bus einzusteigen. Nachdem wir gestern Ello angeschaut haben, heißt das heutige Ziel nun Vero. Doch warum reisen wir überhaupt? Glaubt man der Phrasendrescherei Hüte-tragender Reise-Experten, dann „um seine Grenzen neu zu definieren“.
Vielleicht ist es auch die Einsicht, dass wir mittlerweile zu Statisten und/oder Produkten degradiert wurden und sich auf diesem Wege die Möglichkeit ergibt die Kontrolle zurück zu gewinnen. Oder ist der wahre Grund ganz simpel: Der Wunsch nach noch mehr Likes, mehr Interaktion und wie immer mehr Profit – und die Angst genau diese Chance zu verpassen? Dass hinter Vero ein saudischer Geschäftsmann stehen soll, der seine Arbeiter nicht bezahlt hat (oder waren es die Kontakte in den Kreml?), war für viele die perfekte Ausrede, um nach diesem enttäuschenden Kurzaufenthalt wieder im Bus Platz nehmen zu können.
So schön Pauschalreisen auch sind – für mich geht es erst einmal zu Fuß weiter. Ich winke dem Social-Media-Bus hinterher, während ich am Seitenstreifen meinen Rucksack aufsetze. Die Sturmlampe in meiner Hand leuchtet mir den Weg, während die Kerbholz-Uhr anzeigt, dass es keinen Grund zur Eile gibt. Während ich langsam vorwärts schreite, entdecke ich auf einer Häuserwand wieder eine dieser nervigen Facebook-Werbeanzeigen, die mich wohl davon überzeugen soll, in einer der vielen großen und bekannten Social-Media-Agenturen Karriere zu machen.
Doch anstatt meine Zeit damit zu verbringen Milka-Schokolade und Verrechnungsschecks in Pakete zu packen, um diese dann an die weibliche Influencer-Welt zu verteilen, kümmere ich mich lieber weiter um Menschen, die meine Hilfe wirklich benötigen. Damit mir trotz der Kälte noch ein bisschen warm ums Herz wird, nehme ich mir vor später ein Schaumbad einlaufen zu lassen, einige Kerzen anzuzünden und ins heiße Wasser einzutauchen, mit dem wir alle kochen – natürlich mit einer Schachtel Bifi in der Hand.
Jonas – ich folge dir schon seit langer Zeit, hab mich aber irgendwie nie getraut dir zu schreiben. Naja. Ich schätze deine originellen Fotos und kritischen Gedanken, kombiniert mit deinem Sinn für Humor, sehr – deine Insta-Stories habe ich mir früher am liebsten angeguckt. Dass du nicht im selben Bus fährst mit allen anderen macht dich sehr sympathisch 🙂 Ich habe mich von Instagram verabschiedet und merke, wie gut es mir tut meine Kreativität von dem Einheitsbrei und Schauspiel abzuschirmen. Gleichzeitig nehme ich mir nun Zeit um meinen Lieblingskünstler aktiv zu folgen und nicht nur das zu konsumieren, was mir über eine Plattform mit allem anderen serviert wird. Freue mich jedenfalls auf weitere Blogpost von dir. Deine Authentizität und Witz tun gut 🙂
Vielen lieben Dank für deine Worte. Es freut mich wirklich sehr, dass es da draußen Menschen gibt, die Freude an meinen Bilder und/oder Gedanken haben. Ich denke der ganze Social-Media-Zirkus wird irgendwann weiterziehen und durch etwas anderes ersetzt – auch wenn ich manchmal Angst habe selbst der Busfahrer zu sein. Und auch wenn ich vom Bloggen nicht sonderlich viel verstehe, werde ich weiterhin Zeit in diese Sache investieren. Einfach, weil ich hier tun und lassen kann was ich will. Deine Seite ist übrigens sehr schön und beinhaltet viele großartige Bilder! Ich bin gespannt auf mehr :).
Auch dir herzlichen Dank für deine Worte, ich habe mich sehr über das Kompliment gefreut! 🙂
Komme bei der Metapher nicht mehr nach, sorry 😀 wie meinst du das mit ’selbst der Busfahrer zu sein‘?
Nicht, dass ich mich wirklich darin auskenne, aber ich denke nicht, dass es beim Bloggen sonderlich viel zu verstehen gibt (ausser man hat den Anspruch, einen supertollen Beauty/Lifestyle Blog mit sponsored posts usw. zu haben). Das finde ich so toll daran. 🙂
Damit meine ich, dass man trotz der guten Vorsätze am Ende wider Erwarten nicht von der Social-Media-Welt loskommt und diese und das ganze System dahinter so mit am Leben hält. Für die relevante Zielgruppe sind meine Worte zum Glück von keiner Bedeutung – und so dürfen andere weiterhin für Proteinshakes und Handtaschen Werbung machen, und ich mache das wonach mir gerade ist :).
Joanas. Du kluger zynischer Kopf. Ich liebe diesen Artikel, muss schmunzeln, sehe im Augenwinkel aber auch den Zeigefinger auf das, was gerade so geschieht. Nicht, dass es das nicht in jeder Zeit zu jeder Zeit gegeben hätte. Die negativen Kehrseiten mehr oder minder großer Entwicklungen – aber selbst, wenn wir Menschen einfach eine riesengroße Herde Schafe sind, die langsam aber sicher ihrem Untergang entgegenlaufen (weil, einfach zu viele), bleibt doch die Hoffnung an das Gute. Und kritische Gedanken von jemanden, der seinen eigenen Weg geht, gehört auf jeden Fall in diese Kategorie.
Grüße leider immernoch von Unbekannt.
Carolina
Carolina! Ganz egal wie die Zukunft aussehen, und wohin die Herde auch getrieben wird – Hauptsache wir verlieren nicht den Spaß an der Fotografie. Aber solange es Menschen wie dich gibt, die mit dem Herzen dabei sind, bleibe ich zuversichtlich und freue mich auf jedes neue Bild. Vielleicht wird es einfach Zeit das „social“ aus social media wieder selbst in die Hand zu nehmen und den ganzen Rest auszublenden. Denn was gibt es Schöneres als seine Arbeit mit jenen Menschen zu teilen, die man selbst bewundert und schätzt? Und früher oder später wird man sie hoffentlich alle kennen lernen. Grüße von (sicher nicht mehr lange) Unbekannt.
Moin Jonas, ich bin durch die FC über dich gestolpert und wurde neugierig, ob deine Webseite noch mehr von deiner Kreativität preisgibt. Und siehe da du kannst nicht nur unglaublich emotionale Fotos machen – und dies in verschiedensten Disziplinen – du schreibst auch noch ausgesprochen intelligente Texte mit einem tiefgründigen Humor. Was für eine Entdeckung und das direkt vor der Haustür.
Gruß,
Olly
Vielen Dank für deine lieben Worte, Olly! In der Fotocommunity war ich schon ganz schön lange nicht mehr unterwegs – vielleicht sollte ich dort mal wieder vorbei schauen 🙂